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Titel
Tröstliche Tropen. Albert Schweitzer, Lambarene und die Westdeutschen nach 1945


Autor(en)
Fetscher, Caroline
Reihe
Psyche und Gesellschaft
Erschienen
Anzahl Seiten
821 S., 2 Bde.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Über den Zusammenhang zwischen Imperialismus und Nationalsozialismus wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel geforscht und geschrieben. Im Kern ging und geht es dabei um die Frage nach der Rolle des Kolonialen in der Vorgeschichte des Holocaust. Weit seltener wurde demgegenüber nach der Rolle des Kolonialen in der Nachgeschichte des Nationalsozialismus gefragt: nach dem Zusammenhang zwischen dem deutschen Schuldkomplex nach der Shoah und der erst Jahrzehnte später endgültig verschwindenden kolonialen Weltordnung.

Die kolonialen Bezüge deutscher Geschichte vor und nach dem Holocaust sind weniger realhistorischer als wahrnehmungsgeschichtlicher Art. Deutschland war seit 1918 keine Kolonialmacht mehr und sollte auch nie wieder eine werden. Doch waren den Deutschen nicht nur die drei Jahrzehnte ihrer eigenen kolonialen Herrschaft besonders in Afrika noch lange im Gedächtnis, sondern sie lebten – wie alle anderen – zumindest bis in die 1960er-Jahre in einer Welt, deren dominantes globales Herrschaftssystem weiterhin der Kolonialismus war. Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Zeitgenossen bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus die Ordnung ihrer Welt in kolonialen Kategorien dachten, sollte auch im heutigen kritisch-postkolonialen Blick nicht vergessen oder unterschätzt werden. Und eben deshalb spielte der Kolonialismus – zumindest bewusstseins- und wahrnehmungsgeschichtlich – auch im deutschen Nachkrieg eine unverkennbare Rolle.

Dazu gehört etwa das heute fast vergessene Ausmaß, in dem sich die Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren selber als „kolonisiertes Volk“ wahrnahmen: besetzt, bewacht und ständig beobachtet von den ehemaligen Feindmächten, die in den Deutschen nur „Barbaren“, mindestens aber Verräter an der europäischen Zivilisation sahen; ein wildes Volk, das in Ruinen lebte und der Willkür ihrer internationalen Herren ausgeliefert war. Das anfängliche Motiv dieser verbreiteten Erzählung war natürlich die Bekundung, dass die Deutschen als europäisches Kulturvolk diese Behandlung nicht verdient hätten. Mit der Zeit aber verwandelte sich die Empörung über diesen eigenen quasi-kolonisierten Status in eine quasi-postkoloniale Solidarität mit den Kolonisierten der Welt.

Humanitäres Engagement für die Menschen und/oder Tiere Afrikas war eine der ersten Ausdrucksformen eines neuen Gefühls und einer neuen Praxis deutscher posttotalitärer Weltverantwortung in der frühen Bundesrepublik: in den Programmen der deutschen Entwicklungshilfe etwa, obwohl oder gerade indem sie lange den ausgetretenen Spuren alter Kolonialverhältnisse folgte, oder auch in den spektakulären Naturschutzaktionen Bernhard Grzimeks, die ihre Verwandtschaft mit den „rassenkundlichen“ Afrikabildern des 19. Jahrhunderts kaum verleugnen konnten. Diese neue Solidarität mit den „Verdammten dieser Erde“ nach 1945 hatte für die Deutschen zugleich eine fundamental entschuldende, verdrängende und übermalende Funktion. Gerade weil die Imagination einer Verantwortung für Afrika Bilder und Vorstellungen von „Rassen“ und Rassenunterschieden evozierte, die Frage des Überlebens oder Aussterbens ganzer Völker implizierte, die ambivalente Rolle der Natur in der Moderne heraufbeschwor oder auch den alten Kolonial-Diskurs der europäischen Zivilisierungsmission variierte, bestand sie aus Elementen, die den Deutschen aus totalitärer Konstellation nur allzu bekannt waren. Und umso mehr konnte hier – in diesem Afrika-Diskurs – die eigene Gewalt- und Taterfahrung zugleich verdrängt und bewahrt werden. Überspitzt ließe sich sagen: Die Sorge um Afrika war für die Deutschen ein frühes Medium der erfolgreichen „Bewältigung“ ihrer eigenen Vergangenheit.1

Wem diese Thesen zu weit gehen oder wer sie belegt sehen möchte, der lese Caroline Fetschers 800-seitige Studie über „Albert Schweitzer, Lambarene und die Westdeutschen nach 1945“, die 2023 im Gießener Psychosozial-Verlag unter dem treffenden Titel „Tröstliche Tropen“ erschien. Fetscher, Journalistin, Psychologin und schon lange Redakteurin beim Tagesspiegel, wurde mit dieser Studie an der Universität Zürich promoviert. Die Studie liegt in zwei Teilbänden vor, von denen der erste auf 300 Seiten die Imaginationsgeschichte um den Mythos Schweitzer und das fiktive Lambarene nachzeichnet, während der zweite, etwas umfangreichere Band die Realgeschichte der Person wie des Ortes rekonstruiert. So sehr sich beide auch immer wieder verschränken und miteinander verzahnt sind, ist es zunächst die rein imaginäre Geschichte, die fasziniert. Schon der Umstand, dass Fetscher nicht, wie man erwarten würde, erst die Realgeschichte präsentiert, um dann ihre Mythisierung zu beschreiben, sondern umgekehrt zunächst die komplette transnationale Symptomatik des Mythos einschließlich seiner Pathogenese entfaltet, um die Realgeschichte dann als dessen Ermöglichungskontext zu rekonstruieren, überzeugt und beeindruckt. Denn so werden Vorgänge der Mythisierung, Ideologisierung oder halbbewussten Funktionalisierung als historische Prozesse erkennbar, die die Wirklichkeit mitbestimmten.

Mit diesem Ansatz erschafft Fetscher ein umfassendes historisches Panorama rund um die Namen Schweitzer und Lambarene, das seinen Dreh- und Angelpunkt in der Erhebung beider zu Symbolen eines bundesrepublikanischen Selbstfindungsprozesses nach 1945 hat. Mit Band eins und zwei werden Fakten und Fiktionen, Realitäten und Mythen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in einer unverkennbar psychologisch und psychoanalytisch geschulten Weise in ihrer Vernetzung, Verschränkung und Verschiebung entfaltet und als Zusammenhang analysiert. So geht es im zweiten Band keineswegs nur um die Realgeschichte Lambarenes von der Gründung der ersten Mission 1874 durch Robert Hamill Nassau über die Geschichte des indigenen Pastors Felix Ombagho, der die Missionsarbeit prägte, bevor Schweitzer 1913 eintraf, bis zu einer präzisen Analyse der Arbeit Schweitzers, ihrer Kontexte und Bedingungen sowie ihrer Konsequenzen für die afrikanischen Lebensweisen vor Ort. Es geht ebenso um die verschiedenen Perspektiven der Selbst- und Fremdwahrnehmung Schweitzers, seiner Mitarbeiter und seiner „Schützlinge“. Die Grundhaltung Schweitzers gegenüber Afrika fasst Fetscher in die treffende Formel: „benevolenter, rassistischer Paternalismus“. Statt dies aber als moralpolitischen Vorwurf stehen zu lassen, rekonstruiert Fetscher das zeithistorische wie bewusstseinsgeschichtliche Netzwerk kolonialer Wahrnehmungsweisen, innerhalb dessen diese Haltung selbstverständlich war und das vom kolonialen Afrika bis zum Selbstbild Konrad Adenauers und der frühen Bundesrepublik reicht.

Weitere Kapitel über die jüdischen Hospitalmitarbeiter während des Zweiten Weltkriegs, zur Frage nach der Wahrnehmung Schweitzers in Afrika sowie zu Schweitzers spätem Ruhm als Warner vor einem Atomkrieg – eine Rolle, für die er dann auch den Friedensnobelpreis erhielt – ergänzen und erläutern den im Zentrum stehenden Mythos. Schaut man nach der Lektüre dieses Teil noch einmal in den ersten über das fiktive Lambarene – das Lambarene in den Köpfen und in der Populärkultur Westdeutschlands nach 1945 – dann wird deutlich, was Fetscher meint, wenn sie ihre Methode „Defragmentierung eines Mythos“ nennt. Es geht ihr nicht darum, die Komplexität des Themas zu reduzieren oder ein Urteil über Schweitzer zu fällen, sondern es geht ihr darum, den Fall Schweitzer als „Paradebeispiel einer populärkulturellen Mythenbildung“ im 20. Jahrhundert lesbar zu machen. Die vielen verstreuten Dokumente, Hinweise und Materialien werden zu einem Gesamtbild sortiert, um exemplarisch nachzuzeichnen, wie aus dem „Dschungeldoktor“ gerade in Deutschland eine solche Lichtgestalt werden konnte.

In dieser Weise einen Mythos lesbar zu machen, ist Fetschers Studie in beeindruckender Weise gelungen. Vielleicht aber ein wenig zum Preis ihrer eigenen Lesbarkeit. Die Methode der Defragmentierung scheint zu bedingen, dass die Autorin jeden einzelnen, noch so kleinen Aspekt des Ganzen in die Hand nimmt, hin und her dreht, verschiedene Bezüge herstellt, um ihn dann an einem bestimmten Ort im Gesamtpanorama abzulegen. Diesem Prozess lesend beizuwohnen kann – das muss gesagt werden – recht ermüdend sein. Eine Thesenbildung im klassischen Sinne findet nur in Andeutungen statt, sodass die Studie eher von ihrer Dokumentations- als von ihrer Interpretationsleistung lebt. Das ändert aber nichts daran, dass Fetscher hier ein Werk vorgelegt hat, das aus der derzeitigen Welle postkolonialer Studien deutlich herausragt. Und das vielleicht gerade weil sie keine streitbaren Thesen entwickelt, sondern ein ganzes Feld rekonstruiert und so beweist, dass an jenem eingangs erwähnten historischen Zusammenhang zwischen dem Kolonialen und der Bundesrepublik schlicht kein Zweifel mehr möglich ist.

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu auch Andreas Eckert, Der beste deutsche Tropenwald, den es je gab. Albert Schweitzer, Lambaréné und der Kolonialismus, in: Merkur 889 (2023), S. 63–69.

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